16. Mai 2008

Die Ära Karl Richter in München: Die Jahre 1980 und 1981 [DE]

Im Juli 1980 kamen Karl Richter, sein Münchener Bach-Chor und das Bach-Orchester zum letzten Mal nach Ottobeuren.

Friedemann Winklhofer

An Richters letztes Ottobeuren 1980 kann ich mich noch gut erinnern. Am Sonntag, 20. Juli dirigierte er seine letzte h-moll-Messe, beim traditionellen Orgelkonzert am Abend zuvor sang zusätzlich der Bach-Chor Motetten, u. a. die beiden von mir einstudierten Werke von J. N. David und Z. Kodály, drum herum spielte er Reger und Messiaen. Den ganzen Tag war ich mit ihm an der Orgel, das war schon ein großes Erlebnis, ihm beim Üben an den beiden historischen Orgeln und an der großen Marienorgel zuhören und sozusagen „Mäuschen“ spielen zu dürfen.



Friedemann Winklhofer und Leonard Bernstein bei der Probe zum Karl-Richter-Gedenkkonzert


Prior P. Theodor Lutz

Schon in den letzten Jahren seines Lebens hatten ihn immer wieder Todesahnungen beschäftigt. Mit einem Freund, bei dem er während der Konzerttage in Ottobeuren wohnte, hat er des öfteren darüber gesprochen. Und auch sein letztes Orgelkonzert im Juli 1980 beinhaltete Orgelmusik, die allesamt den Tod zum Thema hatten. Es hatten ihn offensichtlich diese Todesahnungen begleitet, die dann ja auch Wirklichkeit geworden sind. Ich kann mich noch erinnern, dass Karl Richter schon vorher einmal Schwierigkeiten mit den Augen hatte. Nach einer erfolgreichen Netzhaut-Operation war er sehr glücklich. Er kam eigens nach Ottobeuren und hat mit Abt Vitalis Maier darüber gesprochen, wie dankbar er sei, nun wieder richtig sehen zu können.



Prior P. Theodor beim Interview am 21. Juli 2005 an der Dreifaltigkeitsorgel in Ottobeuren

Tags darauf, am 20 Juli 1980, dirigierte Karl Richter in der Stiftsbasilika seine vorletzte h-moll-Messe.

Claes H. Ahnsjoe

Ich weiß nicht, wie viele Male ich die h-moll-Messe mit Richter gesungen habe. Sie war auch die letzte Aufführung in Ottobeuren im Sommer 1980. Auch hier gab es so manche Glücksmomente, beim Benedictus oder beim Duett und auch den anderen wunderbaren Arien, die gerade unter seinen Händen so unglaublich stilistisch geformt und hochwertig wurden.

Beim allerletzten Weihnachtsoratorium, Teil I, war - wie seit 25 Jahren so oft - Kieth Engen mit von der Partie.


Kieth Engen


Karl Richter hat seine Garderobe meistens unten gehabt, weil er nach dem Konzert immer als erster weg wollte. Und wie es das liebe Schicksal haben will, bei diesem letzten Konzert im alten Deutschen Museum, musste ich zum ersten Mal mit ihm dieses Zimmer teilen, für dieses allerletzte Konzert, das Weihnachtsoratorium. Wir haben fast nichts miteinander geredet, nach 25 Jahren, und er ging schnell weg, damals. Ich konnte nicht einmal good-bye sagen, weil er so schell weg war.



Kieth Engen beim Interview am 10. Juni 2004


Aurèle Nicolet

Bei den letzten Konzerten seines Lebens hatte ich das Glück, sie mit ihm zusammen machen zu dürfen. Wir reisten als Duo, durch viele Städte von Deutschland. Frankfurt, München natürlich, Nürnberg, und auch in Norddeutschland. Und das letzte Konzert war in Wilhelmshaven. Er war so müde. Nach dem Konzert bin ich in seinem Zimmer geblieben und habe ein Bier bestellt. Da sagte er zu mir: „Aurèle, guck mal bitte in meinem Koffer, da liegt auf dem Boden ein Stück Papier.“ Und das Stück Papier, das war eine Abschrift von Luthers Testament. Und wir versuchten das auf Französisch zu übersetzen, und ich erinnere mich nur noch an den letzten Satz: „Wir sind alle Bettler.“



Aurèle Nicolet beim Interview am 3. März 2005

Kieth Engen

Karl Richter ist gestorben, 54 Jahre alt, am Sonntag Septuagesimae. Es war ein Sonnentag sondergleichen, bitterkalt. Er war im Hotel Vierjahreszeiten. Nebenan im Englischen Garten sind Dr. Weymar und seine Frau spazieren gegangen, sie haben nicht gewusst, dass er oben stirbt. Ich war hier. Und als ich das gehört habe, habe ich mein Losungsbuch aufgeschlagen, und diese Losungen und Lieder werden drei Jahre im voraus gezogen. Und am 15. Februar 1981 stand ein Lied von Philipp Spitta: „Am Tag, da er reden will, tu auf dein Herz und halt dich still. Da er mit dir sein Werk will tun, lass deiner Hände Werke ruhn.“ Das war für mich irgendwie für Karl Richter. Er hatte etwas Ewiges in seinem Wirken und in seinem Können, und was er geschaffen hat mit seinem Bach-Chor und mit der Bach-Renaissance hier in München. Das war einmalig und das war eine herrliche Zeit. Wir müssen trotz allem dem lieben Gott, dem lieben Karl Richter und dem lieben Johann Sebastian Bach auf den Knien danken.



Gedenktafel am Eingang zur Markuskirche München

Karl Heckel

Frau Richter, Gladys Richter, eine Malerin, in Erlenbach am Zürichsee, wo Richter mit ihr in späteren Jahren ein Haus gekauft hatte, bat mich dann, weil ich doch in der Nähe sei, ob ich statt eines reformierten Pfarrers, die ja dort die normale Landeskirche darstellen, als lutherischer Pfarrer ihn beerdigen würde. Ich hab dies gern getan als letzten Dienst an meinem Meister, und ich möchte sagen, mehr Hörlehrer, denn in der Hochschule hatte ich ja keine Stunden bei ihm gehabt.

Ich war begreiflicherweise sehr nervös, diese Beerdigung eines großen Mannes durchzuführen, welcher Pfarrer ist da nicht nervös. Und ich hab mir überlegt, was kannst du machen, um mit einer besonderen Geste auszudrücken, dass hier ein Großer bestattet wird. Da fiel mir ein, dass ich die Peters-Ausgabe der Bachmotetten besäße, mit der ich manchmal früher bei Richter Motetten gesungen hatte. Man muss wissen, dass einige dieser Motetten ausgesprochene Sterbemotetten sind. Und dann habe ich mir gedacht, ich opfere dieses Buch und werfe es in das Grab hinab als sichtbares Zeichen, dass einer der letzten, die Bach verstanden und dargestellt haben, davon gegangen ist.




Karl Richters Grab auf dem Friedhof Enzenbühl, Zürich


Karl Heckel


Bei der Trauerfeier in der Markuskirche habe ich von oben auf seinen Sarg geschaut, mir war ein Stück meines jungen Lebens zusammen mit ihm weggenommen. Im Hinausgehen aus der Kirche hörte ich, wie eine alte Frau zu einer anderen sagte: „Der Richter hat mich so beeindruckt, dass ich wieder zur Kirchgängerin geworden bin. Durch Bachs Musik bin ich wieder fromm geworden.“



Die Inschrift auf Karl Richters Grabstein