3. Juni 2008

Ehemalige Mitlieder des Münchener Bach-Chores erinnern sich an Karl Richters Probenarbeit

Probenarbeit bedeutete bei Karl Richter nicht, ein Stück, ein paar Töne einzupauken, sondern er war immer darauf aus, auszuprobieren, und zwar hatte er den Wunsch, die Vielschichtigkeit eines Werkes auch deutlich zu machen. Da hat er ausprobiert, das Tempo mal so, oder Forte, Piano, das war alles unbestimmt, wie das im Konzert kommen sollte. Er sagte dann immer: „Weiß ich noch nicht, da müsst ihr eben herschauen, wie das im Konzert kommt.“ Da hat es natürlich auch manche Überraschungen gegeben.



Dieses Ausprobieren kam von seinem Lehrer Karl Straube. Für Straube war Tradition kein stilistisches Merkmal, kein Rezept, keine feste Aufführungspraxis. Straube ging davon aus, das hat er auch seinen Schülern, eben auch Günther Ramin und Karl Richter, beigebracht, dass die Interpretation eines Werkes durch fortwährende geistige Auseinandersetzung mit dem Werk neue Erkenntnisse und Ergebnisse bringt, und diese Ergebnisse sollten sich in der Interpretation eines Werkes widerspiegeln. Wenn dann ein Künstler wie Karl Richter, der sich ja sehr intensiv immer wieder mit den gleichen Werken beschäftigt hat, zu neuen Erkenntnissen kam oder das und jenes ausprobieren wollte, dann war das in den Proben und Konzerten eben zu spüren.

Ein Beispiel: Ein Choral bei der Matthäus-Passion wird geprobt. Plötzlich bricht Richter ab: „Da dürfen Sie kein Crescendo machen, das ist ja ordinär!“ Der ganze Chor lacht. Er: „Wieso, habe ich das voriges Jahr so gemacht?“



Man musste sich völlig auf ihn konzentrieren. Das erzeugte dann die Spannung in der Probe einerseits und andererseits natürlich auch in den Konzerten, diese ungeheure Spannung, die sich dann auch auf das Publikum übertrug. Es war auch so, dass Spontaneität und Überzeugungskraft ihm wichtiger waren als zum Beispiel reiner Schönklang. Ich kann mich gut erinnern bei verschiedenen dramatischen Stellen, seien es nun Bachsche Passionen oder Händelsche Oratorien, dass er die Dramatik so herausgearbeitet hat, dass es am Ende nicht nur eitel Schönklang war. Aber das Ganze war ungeheuer dramatisch und hat alle mitgerissen, die Ausführenden und auch die Zuhörer. Das war das Faszinierende bei ihm.

Hinweis:
Der vollständige Wortlaut der Interviews ist in der Buch-Dokumentation Karl Richter in München – Zeitzeugen erinnern sich“ [ISBN: 978-3000168642] enthalten.