Neben Julia Hamari war die Engländerin Anna Reynolds in den 70er Jahren die wichtigste Altistin Karl Richters.
Anna Reynolds
Das erste Mal, dass ich Karl Richter begegnet bin, war 1970 in Wien. Ich hatte dort ein Konzert mit Josef Krips. Nach dem Konzert kam Karl Richter, ich kannte ihn überhaupt nicht, ins Zimmer und sagte: „Ich bin Richter, das war sehr gut“ und ging weg. Ich hatte kein einziges Wort zu sagen. Und viele Jahre später habe ich ihn gefragt: „Wieso waren Sie in diesem Konzert?“ und er sagte: „Gewiss nicht, um den Krips zu hören.“
Anna Reynolds
Das erste Konzert, das ich mit ihm gesungen habe, war im Juni 1971 ein Kantatenabend im Münchener Bachfest. Und das war: „ Brich dem Hungrigen sein Brot“. Für mich war das wunderbar. Ich hatte noch nie mit so jemandem gearbeitet. Und bei allem, was ich mit ihm gemacht habe, war es immer die Arbeit mit ihm, die mir am meisten gefallen hat. Er brauchte nur ganz wenig zu sagen, kaum eine Geste, nur so eine kleine Handbewegung, und man verstand. Da war ein Rapport, eine Verbindung zwischen uns. Ich habe da so gern gesungen und ich habe immer mit ihm gesungen. Es war kaum einmal, dass ich nicht konnte, wenn er mich fragte, Gott sei Dank. Sonst hätte er mich vielleicht nicht mehr engagiert.
Karl Richter, Elisabeth Speiser und Anna Reynolds (rechts)
Im Juli 1970 hatte die Archivproduktion der Deutschen Grammophon einen großen Kantatenzyklus mit insgesamt 75 Bach-Kantaten für jeden Sonntag des Kirchenjahres in Angriff genommen, in den auch ältere Aufnahmen integriert wurden. Edith Mathis sang in allen Neuproduktionen die Sopranpartie, Julia Hamari oder Anna Reynolds die Altpartie, die Tenorstimme war stets mit Peter Schreier und die Basspartie mit Dietrich Fischer-Dieskau besetzt.
Anna Reynolds
Wir haben die Aufnahmen, ich glaube, oft im September gemacht. Woran ich mich gut erinnere, ist, dass ich von 1970 bis 1975 jeden Sommer in Bayreuth war. Da hatte ich viele Vorstellungen, in manchen Jahren sogar 15 Vorstellungen in einem Monat. Gut, das waren alles kleinere Partien, keine großen, aber ich erinnere mich sehr gut, dass ich jeden Vormittag, wenn ich am Nachmittag Wagner zu singen hatte, Bach geübt habe für die Schallplatten danach. Und das war sehr, sehr gut. Das war eine gute Vorbereitung für Wagner.
Julia Hamari
Julia Hamari
Eine dieser Kantaten liebe ich sehr, mit der Arie „Wie furchtsam wankten meine Schritte“. Und wie ich das gesungen habe, habe ich plötzlich gedacht, um Gottes Willen, ich werde das nicht singen können. Richter hat ein auch für seine Verhältnisse unglaublich langsames Tempo genommen. Ich musste dafür einen Atem nehmen, dass eigentlich meine Lunge platzt. Aber, ich hab es getan und ihn angestarrt dabei, ich musste es auswendig singen, sonst wäre es absolut unmöglich gewesen. Und dann schauten mich alle an, das Orchester applaudierte. Ich bin dann hinauf in die Studioräume gegangen, die Arme weit von mir gestreckt. Ich hatte die reinste Lungenerweiterung von diesem Tempo. Plötzlich kommt Richter hinter mir und sagt: „War schön langsam, was?“ Da drehte ich mich um und fragte: „Wollten Sie das?“ „Natürlich nicht! Jetzt kriegen Sie das richtige Tempo und das wird gut.“
Dietrich Fischer-Dieskau, Karl Richter und Kurt Guntner beim Abhören der Aufnahmen