Am heutigen Mittwoch, den 15. Oktober 2014, wäre Karl Richter 88 Jahre alt geworden.
Als Karl Richter mit 54 Jahren an Herzversagen starb, gab es große Bestürzung allerorten. Denn Ruhm und Wirkung der von ihm geschaffenen neuen Bach-Tradition und seine Schöpfung des einst weltberühmten Bach-Chores, eines Laien-Chores von professionellem Zuschnitt, hatten eine geradezu hymnische Verehrung in allen Weltteilen geerntet, wie sie kein anderer Kantor des 20. Jahrhunderts - außer vielleicht seinen beiden Lehrern Karl Straube und Günther Ramin - je für sich in Anspruch nehmen konnte. Diese beiden großen Lehrmeister, in deren Obhut Richter, neben der chorischen Erziehung durch Rudolf Mauersberger, aufwuchs, vermittelten ihm die Aufführungspraxis mindestens dreier Generationen...
Karl Richter bei der Schallplattenaufnahme von Bachs Messe h-moll im Jahr 1961
(Fotos: Karl Richter Archiv)
...Unglaublich immer wieder die Gedächtnisleistung: Ihm war das gesamte Tastenwerk wie alles, was Bach der menschlichen Stimme anvertraut hat, im Kopf und sofort verfügbar. Oft war er bis zum Konzertbeginn nicht völlig sicher, was auf dem Programmzettel stand. Und im Grunde konnte erst auf dem Weg über seine Interpretationen auf der Orgel oder dem Cembalo wirklich ermessen werden, wie seine Bach-Auffassung sich von Jahr zu Jahr rundete: von äußerster Strenge und Sachlichkeit ausgehend, wuchs er zum Ausdruck jener glutvollen Frömmigkeit, die ihn beseelte.
Wenig kümmerte sich Richter um musikwissenschaftliche Revolutionen, um die jüngere Bach-Forschung. Er ließ sein Bach-Orchester auf modernen Instrumenten spielen und richtete sein ganzes Bemühen daran aus, eine Intensität zu vermitteln, die eine seiner spezifischen Qualitäten ausmachte. Während der Aufführungen enthusiasmierte er Ausführende wie Hörende, und nie konnten die genau Einstudierten sicher sein, ob sie nicht geheimnisvoll in ganz andere Ausdruckssphären und damit andere Tempi und Lautstärken geführt wurden, nicht wissend, wie ihnen geschah. Kein bequemer Künstler war er, folglich auch kein bequemer Mensch. So hat er nicht bloß Anstöße gegeben, sondern auch Anstoß erregt. Wer wie er sein ganzes Leben einsetzt, ohne Rücksicht auf das Herz oder die immer gefährdeten Augen, der kann auch unduldsam bis zur Härte werden, wenn es um das Werk, die Leistung - und nicht zuletzt ums Ansehen ging...
Er hat das Leben aller, die Musik lieben, reicher gemacht. Und er wäre noch zu damals nur geahnten symphonischen Ufern aufgebrochen. Meine letzte Begegnung mit ihm bei einem Deutschen Requiem von Brahms in Baden-Baden ließ den großen Atem und die Ausdruckstiefe spüren, die er als Dirigent verwirklichen konnte. Auf dem Gebiet der Oper - ich durfte Händels Cesare und Glucks Orfeo mit ihm musizieren - bewährte sich außer seiner improvisatorischen Spannkraft eben jener Umgang der menschlichen Stimme, den ihm das große, aber durch ihn selbst als beendet erklärte Kantaten-Projekt auf der Schallplatte beschert hatte.
(entnommen dem Textbeitrag, den Dietrich Fischer-Dieskau unserer Buch-Dokumentation "Karl Richter in München - Zeitzeugen erinnern sich" dankenswerterweise zur Verfügung gestellt hat)