29. Oktober 2013
Johannes Fink erinnert sich an Karl Richter
Das gesamte Interview findet sich in der Buch-Dokumentation "Karl Richter in München - Zeitzeugen erinnern sich" und ist in deutscher Sprache sowie der englischen Übersetzung auf dem Karl Richter-Archiv abrufbar.
Das komplette Interview in Bild und Ton, aus dem dieser Videoclip stammt, gibt es auf DVD.
26. Oktober 2013
Die Sängerin Edda Moser wird 75
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!
Edda Moser beim Interview am 26. Juli 2004 in ihrem Haus in Rheinbreitbach
Die Sopranistin Edda Moser wurde am 27. Oktober 1938 in Berlin geboren.
Zum Leben und Wirken von Edda Moser
Christoph Willibald Gluck, Orfeo ed Euridice, mit Edda Moser als Amore, Leitung: Karl Richter
Discografie bei Amazon
Edda Moser im August 1967 bei der Schallplattenaufnahme von Glucks Orfeo ed Euridice
(Foto: privat)
Edda Moser über das Phänomen "Karl Richter"
...Ich stamme aus einem Haus, in dem die Bachtradition sehr gepflegt wurde. Ich bin auch in Weimar aufgewachsen oder, besser gesagt, in Sachsen und Thüringen. Ich habe von Anfang an eine Selbstverständlichkeit für Bach gehabt. Die Erziehung meiner Eltern war so, dass ich auch mit dieser Selbstverständlichkeit die Phrasierung gemacht habe, die Appoggiaturen (Vorschläge) oder wie welches Tempo, dass es nicht zu schnell war, oder auch die Koloraturen. Es gab keine Diskussionen, Richter fing an und ich folgte. Es war nicht nur ein sich miteinander Verständigen, sondern wir haben beide die Musik gemacht, und da war nie ein Zweifel. Nun war ich auch flexibel, ich wusste, ob die Koloratur nun schneller oder langsamer sein sollte. Und ich hatte nie das Gefühl, o Gott, ich komme nicht mit, oder so etwas. Richter hatte da eine ganz große Natürlichkeit in der Tempoangabe. Da hatte ich nie irgendwelche Probleme.
Edda Moser im Juli 1969 in Ansbach (Foto: privat)
Karl Richter lebte in seiner großen Ruhe und in seinem Nichtbetonen. Ich denke immer, im Himmel gibt es keine Betonungen - und Richter war der Himmel. Er verströmte eine große Ruhe, und wenn er einmal so eine Bewegung machte, dann war es das eben. Wenn ich denke, das Theater, was diese Dirigenten heute alle machen, um ein Forte raus zu kitzeln, dass einem nur übel werden kann, wenn man eben vergleicht, mit wie wenigen, sparsamen Bewegungen Richter den Himmel geöffnet hat.
Edda Moser und Karl Richter im Oktober 1970 in Paris - Haydns Schöpfung - (Foto: privat)
Ich glaube, er hat lauter Leute genommen, denen er musikalisch nicht zu helfen brauchte. Er musste einen nur anschauen, gab den Einsatz und sagte höchstens mal „misterioso", und das war's dann auch schon. Und dann kam eben das, was er sich erwartet hatte. Wenn Richter korrigieren oder irgend etwas sagte musste, da hat dann schon etwas nicht gestimmt.
Edda Moser und Karl Richter im Oktober 1970 in Paris - Haydns Schöpfung - (Foto: privat)
Bei Richter musste man einfach strömen. Da war eine Glut, da war der volle Körper, der gesungen hat, und nicht wie heute eben, dass die Stimmen nur halb zur Verfügung stehen. Er wollte immer gern Opernstimmen haben, die richtig voll losgelegt haben. Und die eben klagen konnten und jubeln und leiden und im Singen lachen und fröhlich sein konnten. Und tiefste Trauer, das alles wünschte er. Und wer ihm das gab, der war bei ihm in Abrahams Schoß.
Edda Moser und Karl Richter im Oktober 1970 in Paris - Haydns Schöpfung - (Foto: privat)
Ich weiß nicht, ob man dieses Phänomen Karl Richter erklären kann, ich glaube es nicht. Richter zu erkären, ist immer nur die Hälfte. Er hatte eine besondere Art an sich, auch von einer großen Erotik. Er hatte eine ungeheure Erotik, wie er zum Beispiel einen Akkord spielte. Er saß ja immer selbst am Cembalo, und wie da etwas wuchs, das war eben so aufregend. Man war einfach platt über das, was da kam. Wenn man da andere Vorstellungen gehört hatte mit anderen Dirigenten, wenn bei Richter eben das Entsetzen wuchs oder die Seligkeit oder die Sehnsucht. Das war bei ihm in einer so romantischen Weise ausgedrückt. Das ist gar nicht zu vergleichen.
Edda Moser im Jahr 1971 (Foto: privat)
Edda Moser über ihr Repertoire bei Karl Richter
Ich habe gar nicht so viel Bach mit ihm gemacht, ja, Beethoven Missa Solemnis, Elias von Felix Mendelssohn Bartholdy in Ottobeuren und Dvorak Stabat Mater, also Sachen, die im Grunde genommen noch ein bisschen mehr Opernaplomb brauchten. Und da hat er mich eben für diese Partien engagiert. Natürlich habe ich auch Matthäus-Passion, Johannes-Passion, Weinachtsoratorium und h-moll-Messe mit Richter, hauptsächlich in München, gesungen. Aber wir waren eben auch mehrmals im Ausland, in Paris, in Südamerika. Das hat mich geprägt und auch sehr anspruchsvoll gemacht, so dass ich nach dem Tod von Richter nie wieder Bach gesungen habe. Das war nicht mehr möglich.
Edda Moser im Jahr 1974 - Mendelssohn, Elias, in der Basilika Ottobeuren - (Foto: privat)
In Ottobeuren schließlich immer über 3000 Menschen und keine Presse, weil er eben auch ein etwas gestörtes Verhältnis zur Presse hatte. Er sagte ja immer, er lese keine Presse, und dann sah man, wie ihm aus der Tasche die Zeitungen herausragten. Darum hat man ihn auch nicht weiter darauf angesprochen. Aber in Ottobeuren, in bayrischen Landen, war es möglich, diese Musik zu machen. Da brauchte keine Presse dabei zu sein, und das machte es für uns alle leichter. Wir haben dadurch auch befreit gesungen. Angst hatte man natürlich, dem musikalischen Anspruch nicht zu genügen, aber man war ja so beflügelt. Man wusste, er ließ einen singen. Wenn da einer ein schönes Piano sang, dann ließ er einen eine Fermate machen, so lange wie man wollte. Und er konnte sich auf uns verlassen, wir haben niemals die Geschmacksgrenzen übertreten.
Edda Moser mit Leonard Hokanson bei einem Liederabend (Foto: privat)
Edda Moser mit Leonard Bernstein (Foto: privat)
Das gesamte Interview findet sich in der Buch-Dokumentation "Karl Richter in München - Zeitzeugen erinnern sich" und ist in deutscher und englischer Sprache auf dem Karl Richter-Archiv abrufbar.
Das komplette Interview in Bild und Ton, aus dem dieser Videoclip stammt, gibt es auf DVD.
Edda Moser beim Interview am 26. Juli 2004 in ihrem Haus in Rheinbreitbach
Die Sopranistin Edda Moser wurde am 27. Oktober 1938 in Berlin geboren.
Zum Leben und Wirken von Edda Moser
Christoph Willibald Gluck, Orfeo ed Euridice, mit Edda Moser als Amore, Leitung: Karl Richter
Discografie bei Amazon
Edda Moser im August 1967 bei der Schallplattenaufnahme von Glucks Orfeo ed Euridice
(Foto: privat)
Edda Moser über das Phänomen "Karl Richter"
...Ich stamme aus einem Haus, in dem die Bachtradition sehr gepflegt wurde. Ich bin auch in Weimar aufgewachsen oder, besser gesagt, in Sachsen und Thüringen. Ich habe von Anfang an eine Selbstverständlichkeit für Bach gehabt. Die Erziehung meiner Eltern war so, dass ich auch mit dieser Selbstverständlichkeit die Phrasierung gemacht habe, die Appoggiaturen (Vorschläge) oder wie welches Tempo, dass es nicht zu schnell war, oder auch die Koloraturen. Es gab keine Diskussionen, Richter fing an und ich folgte. Es war nicht nur ein sich miteinander Verständigen, sondern wir haben beide die Musik gemacht, und da war nie ein Zweifel. Nun war ich auch flexibel, ich wusste, ob die Koloratur nun schneller oder langsamer sein sollte. Und ich hatte nie das Gefühl, o Gott, ich komme nicht mit, oder so etwas. Richter hatte da eine ganz große Natürlichkeit in der Tempoangabe. Da hatte ich nie irgendwelche Probleme.
Edda Moser im Juli 1969 in Ansbach (Foto: privat)
Karl Richter lebte in seiner großen Ruhe und in seinem Nichtbetonen. Ich denke immer, im Himmel gibt es keine Betonungen - und Richter war der Himmel. Er verströmte eine große Ruhe, und wenn er einmal so eine Bewegung machte, dann war es das eben. Wenn ich denke, das Theater, was diese Dirigenten heute alle machen, um ein Forte raus zu kitzeln, dass einem nur übel werden kann, wenn man eben vergleicht, mit wie wenigen, sparsamen Bewegungen Richter den Himmel geöffnet hat.
Edda Moser und Karl Richter im Oktober 1970 in Paris - Haydns Schöpfung - (Foto: privat)
Ich glaube, er hat lauter Leute genommen, denen er musikalisch nicht zu helfen brauchte. Er musste einen nur anschauen, gab den Einsatz und sagte höchstens mal „misterioso", und das war's dann auch schon. Und dann kam eben das, was er sich erwartet hatte. Wenn Richter korrigieren oder irgend etwas sagte musste, da hat dann schon etwas nicht gestimmt.
Edda Moser und Karl Richter im Oktober 1970 in Paris - Haydns Schöpfung - (Foto: privat)
Bei Richter musste man einfach strömen. Da war eine Glut, da war der volle Körper, der gesungen hat, und nicht wie heute eben, dass die Stimmen nur halb zur Verfügung stehen. Er wollte immer gern Opernstimmen haben, die richtig voll losgelegt haben. Und die eben klagen konnten und jubeln und leiden und im Singen lachen und fröhlich sein konnten. Und tiefste Trauer, das alles wünschte er. Und wer ihm das gab, der war bei ihm in Abrahams Schoß.
Edda Moser und Karl Richter im Oktober 1970 in Paris - Haydns Schöpfung - (Foto: privat)
Ich weiß nicht, ob man dieses Phänomen Karl Richter erklären kann, ich glaube es nicht. Richter zu erkären, ist immer nur die Hälfte. Er hatte eine besondere Art an sich, auch von einer großen Erotik. Er hatte eine ungeheure Erotik, wie er zum Beispiel einen Akkord spielte. Er saß ja immer selbst am Cembalo, und wie da etwas wuchs, das war eben so aufregend. Man war einfach platt über das, was da kam. Wenn man da andere Vorstellungen gehört hatte mit anderen Dirigenten, wenn bei Richter eben das Entsetzen wuchs oder die Seligkeit oder die Sehnsucht. Das war bei ihm in einer so romantischen Weise ausgedrückt. Das ist gar nicht zu vergleichen.
Edda Moser im Jahr 1971 (Foto: privat)
Edda Moser über ihr Repertoire bei Karl Richter
Ich habe gar nicht so viel Bach mit ihm gemacht, ja, Beethoven Missa Solemnis, Elias von Felix Mendelssohn Bartholdy in Ottobeuren und Dvorak Stabat Mater, also Sachen, die im Grunde genommen noch ein bisschen mehr Opernaplomb brauchten. Und da hat er mich eben für diese Partien engagiert. Natürlich habe ich auch Matthäus-Passion, Johannes-Passion, Weinachtsoratorium und h-moll-Messe mit Richter, hauptsächlich in München, gesungen. Aber wir waren eben auch mehrmals im Ausland, in Paris, in Südamerika. Das hat mich geprägt und auch sehr anspruchsvoll gemacht, so dass ich nach dem Tod von Richter nie wieder Bach gesungen habe. Das war nicht mehr möglich.
Edda Moser im Jahr 1974 - Mendelssohn, Elias, in der Basilika Ottobeuren - (Foto: privat)
In Ottobeuren schließlich immer über 3000 Menschen und keine Presse, weil er eben auch ein etwas gestörtes Verhältnis zur Presse hatte. Er sagte ja immer, er lese keine Presse, und dann sah man, wie ihm aus der Tasche die Zeitungen herausragten. Darum hat man ihn auch nicht weiter darauf angesprochen. Aber in Ottobeuren, in bayrischen Landen, war es möglich, diese Musik zu machen. Da brauchte keine Presse dabei zu sein, und das machte es für uns alle leichter. Wir haben dadurch auch befreit gesungen. Angst hatte man natürlich, dem musikalischen Anspruch nicht zu genügen, aber man war ja so beflügelt. Man wusste, er ließ einen singen. Wenn da einer ein schönes Piano sang, dann ließ er einen eine Fermate machen, so lange wie man wollte. Und er konnte sich auf uns verlassen, wir haben niemals die Geschmacksgrenzen übertreten.
Edda Moser mit Leonard Hokanson bei einem Liederabend (Foto: privat)
Edda Moser mit Leonard Bernstein (Foto: privat)
Das gesamte Interview findet sich in der Buch-Dokumentation "Karl Richter in München - Zeitzeugen erinnern sich" und ist in deutscher und englischer Sprache auf dem Karl Richter-Archiv abrufbar.
Das komplette Interview in Bild und Ton, aus dem dieser Videoclip stammt, gibt es auf DVD.
18. Oktober 2013
Der Flötist Paul Meisen wird 80
Herzlichen Glückwunsch zum 80.
Geburtstag!
Paul Meisen, zusammen mit Aurèle Nicolet Karl Richters bevorzugter Soloflötist im Münchener Bach-Orchester, aber auch in der Kammermusik, wurde am 19. Oktober 1933 in Hamburg geboren.
Zum Leben und Wirken von Paul Meisen
Paul Meisen, Otto Büchner und Karl Richter auf DVD in Bachs Brandenburgischem Konzert Nr. 5
Discografie bei Amazon
Paul Meisen Mitte der 1960er Jahre
Schon in frühen Jahren fühlte sich Paul Meisen in besonderem Maße dem pädagigischen Wirken verpflichtet. Es sagte uns im Interview am 15. Juni 2005 in seinem Haus in Gerolsbach/Obb. u.a.:
...Die Dinge haben sich bei mir organisch entwickelt. Entweder meine Orchesterlaufbahn hätte weiter nach oben gehen können oder müssen, ich war hauptsächlich Soloflötist im Philharmonischen Staatsorchester Hamburg. Es gab Kontakte zu den Berliner Philharmonikern, es gab auch bereits Gespräche mit der Detmolder Musikhochschule. Ich war damals Ende 30, für ein Orchester als Musiker nicht mehr ganz jung, für einen Pädagogen noch sehr jung. Da habe ich überlegt: Mich jetzt zu den Berlinern zu drängeln, das würde doch bedeuten, mich noch einmal unterordnen zu müssen. Inzwischen war mein Gefühl aber so, ich möchte mich nicht mehr so viel unterordnen. Ich möchte nun selber etwas bewirken. Dann habe ich mich entschieden, den pädagogischen Weg zu gehen, nach Detmold. Das habe ich nie bereut, auch wenn ich diese und jene Brahms-Sinfonie ganz gern noch mal gespielt hätte.
Paul Meisen und Aurèle Nicolet beim Bachfest Ansbach 1961
Aber zwei Dinge haben mir besonders geholfen in der Erinnerung an die Orchesterzeit. Bei der Bach-Interpretation war für mich Karl Richter maßgebend. Er hat mir den Mut gegeben, Bach zu interpretieren, zu spielen, auch aus dem Bauch heraus, aber auch aus der Analyse heraus. Von daher habe ich ein besonderes Verhältnis zu Bach gehabt, entwickelt als Spieler und auch als Pädagoge.
Paul Meisen und Otto Büchner in Siegerpose beim Bachfest Ansbach 1961
In meiner Orchesterzeit war natürlich der Orchesterkonzert-Teil sehr wichtig, aber ich war ja in einem Doppelfunktionsorchester, das sowohl Oper als auch Konzert gemacht hat. Da ist für mich eine unerschöpfliche Erinnerungsquelle die Arbeit in der Oper mit den Sängern. Also für Bach die Arbeit mit Karl Richter, als Basis meines pädagogischen Wirkens, und ansonsten die Intuition über die Sänger, mehr als über die reine Konzertliteratur.
Dieses alles hat dazu geführt, dass ich von Detmold über München, wo ich 15 Jahre an der Musikhochschule war, bis nach Tokio und wieder zurück gekommen bin. Das ist ein großer Bogen, unlösbar mit Karl Richter verbunden und unlösbar mit meiner Operntätigkeit.
Paul Meisen im Jahr 1969
Paul Meisen über die Japan-Tournee 1969
... Die Japan-Tournee 1969 war sicherlich der Höhepunkt. Beeindruckt waren wir ja auch von der Wechselwirkung von Podium aus, Karl Richters Ausstrahlung, aber auch die Wechselwirkung vom Publikum her. Es soll, und ich glaube, das ist auch richtig, die erste ungekürzte Fassung der Matthäus-Passion gewesen sein, die in Japan erklungen ist. Und wir erinnern uns an den wunderschönen großen Saal Bunka Kaikan, voll bis auf den letzten Platz, und das Publikum hatte die Texthefte vor sich. Sie verfolgten alle einzeln den Text in Deutsch. Und sie blätterten alle um, wir spürten, dass alle umblätterten, wir hörten aber kein Geräusch, die Konzentration war so faszinierend. Das war vielleicht die beeindruckendste Matthäus-Passion meines Lebens. Diese Geschlossenheit, diese Einheit zwischen Hörern und Spielern, da ging kein Blatt dazwischen, das war ein Ganzes. Für mich war es das unvergessendste und unvergesslichste Erlebnis der Matthäus-Passion.
Paul Meisen im Jahr 1970
Paul Meisen über Interpretation, Artikulation und Tempo bei Karl Richter
Richter war ja nicht im üblichen Sinn ein Dirigent. Man konnte nicht sagen, dass er ein Taktstockvirtuose war. Im Grunde kam seine Interpretation aus seinem Innersten. Und auch wenn die Dirigierbewegungen gar nicht immer übereinstimmten, die Übereinstimmung mit seinem Inneren war immer gewährleistet, das war etwas Geheimnisvolles. Man merkte auch, wenn es nur die geringste Abweichung gab, ein Sechzehntel oder Zweiunddreißigstel, dass er sofort reagierte. Sein inneres Bild war so stark, dass es sich auf seine Interpretation unmittelbar auswirkte. Ich glaube, er hätte gar nicht zu dirigieren brauchen. Und dass er die großen Passionen, auch die h-moll-Messe, so auswendig beherrschte, dass er auch vom Cembalo her in den Rezitativen Note für Note in seinem Inneren gespeichert hatte, das alles machte ihn zu einer unglaublich charismatischen Figur.
Bei ihm hat man erst einmal einen Begriff von Artikulation bekommen. In der Zeit, in der ich meine wesentlichen Orchestererfahrungen machte, das war ja eigentlich die Blüte und das Ende der Zeit des romantischen Orchesterklanges, hat man im Orchester nicht so deutlich artikuliert. Obwohl er eigentlich ein romantischer Bachinterpret war, hat er uns doch sehr klar gemacht, wie eine Artikulation zu sein hatte, und er hat auch beklagt, dass Orchestermusiker von Natur aus so wenig artikulieren können.
Aber was ich auch noch bei ihm gelernt habe, was sich mir eingeprägt hat, das ist seine Beziehung zum Tempo gewesen. Ich habe bei ihm begriffen: Wenn man ein langsames Tempo wählt, dann muss es von innen heraus schnell gespielt werden. Und wenn man ein schnelles Tempo wählt, dann kann man es von innen heraus langsam spielen. Diese Ambivalenz ist mir bei ihm bewusst geworden und hat mich eigentlich ein Leben lang begleitet und geprägt, auch später dann in meiner Pädagogik.
Paul Meisen im Interview am 15. Juni 2005 in Gerolsbach/Obb.
Das gesamte Interview findet sich in der Buch-Dokumentation "Karl Richter in München - Zeitzeugen erinnern sich" und ist in deutscher Sprache sowie in der englischen Übersetzung auf dem Karl Richter-Archiv abrufbar.
Das komplette Interview in Bild und Ton, aus dem dieser Videoclip stammt, gibt es auf DVD.
Paul Meisen, zusammen mit Aurèle Nicolet Karl Richters bevorzugter Soloflötist im Münchener Bach-Orchester, aber auch in der Kammermusik, wurde am 19. Oktober 1933 in Hamburg geboren.
Zum Leben und Wirken von Paul Meisen
Paul Meisen, Otto Büchner und Karl Richter auf DVD in Bachs Brandenburgischem Konzert Nr. 5
Discografie bei Amazon
Paul Meisen Mitte der 1960er Jahre
Schon in frühen Jahren fühlte sich Paul Meisen in besonderem Maße dem pädagigischen Wirken verpflichtet. Es sagte uns im Interview am 15. Juni 2005 in seinem Haus in Gerolsbach/Obb. u.a.:
...Die Dinge haben sich bei mir organisch entwickelt. Entweder meine Orchesterlaufbahn hätte weiter nach oben gehen können oder müssen, ich war hauptsächlich Soloflötist im Philharmonischen Staatsorchester Hamburg. Es gab Kontakte zu den Berliner Philharmonikern, es gab auch bereits Gespräche mit der Detmolder Musikhochschule. Ich war damals Ende 30, für ein Orchester als Musiker nicht mehr ganz jung, für einen Pädagogen noch sehr jung. Da habe ich überlegt: Mich jetzt zu den Berlinern zu drängeln, das würde doch bedeuten, mich noch einmal unterordnen zu müssen. Inzwischen war mein Gefühl aber so, ich möchte mich nicht mehr so viel unterordnen. Ich möchte nun selber etwas bewirken. Dann habe ich mich entschieden, den pädagogischen Weg zu gehen, nach Detmold. Das habe ich nie bereut, auch wenn ich diese und jene Brahms-Sinfonie ganz gern noch mal gespielt hätte.
Paul Meisen und Aurèle Nicolet beim Bachfest Ansbach 1961
Aber zwei Dinge haben mir besonders geholfen in der Erinnerung an die Orchesterzeit. Bei der Bach-Interpretation war für mich Karl Richter maßgebend. Er hat mir den Mut gegeben, Bach zu interpretieren, zu spielen, auch aus dem Bauch heraus, aber auch aus der Analyse heraus. Von daher habe ich ein besonderes Verhältnis zu Bach gehabt, entwickelt als Spieler und auch als Pädagoge.
Paul Meisen und Otto Büchner in Siegerpose beim Bachfest Ansbach 1961
In meiner Orchesterzeit war natürlich der Orchesterkonzert-Teil sehr wichtig, aber ich war ja in einem Doppelfunktionsorchester, das sowohl Oper als auch Konzert gemacht hat. Da ist für mich eine unerschöpfliche Erinnerungsquelle die Arbeit in der Oper mit den Sängern. Also für Bach die Arbeit mit Karl Richter, als Basis meines pädagogischen Wirkens, und ansonsten die Intuition über die Sänger, mehr als über die reine Konzertliteratur.
Dieses alles hat dazu geführt, dass ich von Detmold über München, wo ich 15 Jahre an der Musikhochschule war, bis nach Tokio und wieder zurück gekommen bin. Das ist ein großer Bogen, unlösbar mit Karl Richter verbunden und unlösbar mit meiner Operntätigkeit.
Paul Meisen im Jahr 1969
Paul Meisen über die Japan-Tournee 1969
... Die Japan-Tournee 1969 war sicherlich der Höhepunkt. Beeindruckt waren wir ja auch von der Wechselwirkung von Podium aus, Karl Richters Ausstrahlung, aber auch die Wechselwirkung vom Publikum her. Es soll, und ich glaube, das ist auch richtig, die erste ungekürzte Fassung der Matthäus-Passion gewesen sein, die in Japan erklungen ist. Und wir erinnern uns an den wunderschönen großen Saal Bunka Kaikan, voll bis auf den letzten Platz, und das Publikum hatte die Texthefte vor sich. Sie verfolgten alle einzeln den Text in Deutsch. Und sie blätterten alle um, wir spürten, dass alle umblätterten, wir hörten aber kein Geräusch, die Konzentration war so faszinierend. Das war vielleicht die beeindruckendste Matthäus-Passion meines Lebens. Diese Geschlossenheit, diese Einheit zwischen Hörern und Spielern, da ging kein Blatt dazwischen, das war ein Ganzes. Für mich war es das unvergessendste und unvergesslichste Erlebnis der Matthäus-Passion.
Paul Meisen im Jahr 1970
Paul Meisen über Interpretation, Artikulation und Tempo bei Karl Richter
Richter war ja nicht im üblichen Sinn ein Dirigent. Man konnte nicht sagen, dass er ein Taktstockvirtuose war. Im Grunde kam seine Interpretation aus seinem Innersten. Und auch wenn die Dirigierbewegungen gar nicht immer übereinstimmten, die Übereinstimmung mit seinem Inneren war immer gewährleistet, das war etwas Geheimnisvolles. Man merkte auch, wenn es nur die geringste Abweichung gab, ein Sechzehntel oder Zweiunddreißigstel, dass er sofort reagierte. Sein inneres Bild war so stark, dass es sich auf seine Interpretation unmittelbar auswirkte. Ich glaube, er hätte gar nicht zu dirigieren brauchen. Und dass er die großen Passionen, auch die h-moll-Messe, so auswendig beherrschte, dass er auch vom Cembalo her in den Rezitativen Note für Note in seinem Inneren gespeichert hatte, das alles machte ihn zu einer unglaublich charismatischen Figur.
Bei ihm hat man erst einmal einen Begriff von Artikulation bekommen. In der Zeit, in der ich meine wesentlichen Orchestererfahrungen machte, das war ja eigentlich die Blüte und das Ende der Zeit des romantischen Orchesterklanges, hat man im Orchester nicht so deutlich artikuliert. Obwohl er eigentlich ein romantischer Bachinterpret war, hat er uns doch sehr klar gemacht, wie eine Artikulation zu sein hatte, und er hat auch beklagt, dass Orchestermusiker von Natur aus so wenig artikulieren können.
Aber was ich auch noch bei ihm gelernt habe, was sich mir eingeprägt hat, das ist seine Beziehung zum Tempo gewesen. Ich habe bei ihm begriffen: Wenn man ein langsames Tempo wählt, dann muss es von innen heraus schnell gespielt werden. Und wenn man ein schnelles Tempo wählt, dann kann man es von innen heraus langsam spielen. Diese Ambivalenz ist mir bei ihm bewusst geworden und hat mich eigentlich ein Leben lang begleitet und geprägt, auch später dann in meiner Pädagogik.
Paul Meisen im Interview am 15. Juni 2005 in Gerolsbach/Obb.
Das gesamte Interview findet sich in der Buch-Dokumentation "Karl Richter in München - Zeitzeugen erinnern sich" und ist in deutscher Sprache sowie in der englischen Übersetzung auf dem Karl Richter-Archiv abrufbar.
Das komplette Interview in Bild und Ton, aus dem dieser Videoclip stammt, gibt es auf DVD.
14. Oktober 2013
Karl Richter zum 87. Geburtstag
Karl Richter kam am 15. Oktober 1926 als viertes von fünf Kindern des Pfarrers Dr. Christian Johannes Richter und Clara Hedwig Richter, geb. Facilides, in Plauen im Vogtland zur Welt.
Laut Geburtsurkunde erhielt er die Namen Karl Felix Johannes.
Das Geburtshaus Karl Richters am Schlossberg 10 a in Plauen
Seit Juli dieses Jahres erinnert eine Gedenktafel an den berühmten Sohn der Stadt
Es gibt von Karl Richter nicht viele Filmsequenzen, die ihn live erleben lassen. Er war kein Freund von Studio-Produktionen, weder für die Schallplatte und schon gar nicht für das Fernsehen.
Etliche Filmaufnahmen (ohne Ton) aus den 1950er und 1960er Jahren verdanken wir Heinz Geisel, dem langjährigen Geschäftsführer des Münchener Bach-Chores. Der Vorspann zur Film-Trilogie zeigt Karl Richter auf verschiedenen Konzertreisen.
Wirklich live erleben kann man Karl Richter in Friedrich Müllers Film "Karl Richter und sein Münchener Bach-Chor" aus dem Jahr 1967. Hier drei Ausschnitte aus diesem 45-minütigen Film:
Ausschnitt 1
Ausschnitt 2
Ausschnitt 3
Link zum Blogeintrag anlässlich des 82. Geburtstages von Karl Richter
12. Oktober 2013
Antonia Fahberg erinnert sich an Karl Richter
Das gesamte Interview findet sich in der Buch-Dokumentation "Karl Richter in München - Zeitzeugen erinnern sich" und ist in deutscher Sprache sowie der englischen Übersetzung auf dem Karl Richter-Archiv abrufbar.
Das komplette Interview in Bild und Ton, aus dem dieser Videoclip stammt, gibt es auf DVD.
8. Oktober 2013
Kieth Engen erinnert sich an Karl Richter
Das gesamte Interview findet sich in der Buch-Dokumentation "Karl Richter in München - Zeitzeugen erinnern sich" und ist in deutscher Sprache sowie der englischen Übersetzung auf dem Karl Richter-Archiv abrufbar.
Das komplette Interview in Bild und Ton, aus dem dieser Videoclip stammt, gibt es auf DVD.
6. Oktober 2013
Ursula Buckel erinnert sich an Karl Richter
Das gesamte Interview findet sich in der Buch-Dokumentation "Karl Richter in München - Zeitzeugen erinnern sich" und ist in deutscher Sprache sowie der englischen Übersetzung auf dem Karl Richter-Archiv abrufbar.
Das komplette Interview in Bild und Ton, aus dem dieser Videoclip stammt, gibt es auf DVD.
4. Oktober 2013
Hermann Baumann erinnert sich an Karl Richter
Das gesamte Interview findet sich in der Buch-Dokumentation "Karl Richter in München - Zeitzeugen erinnern sich" und ist in deutscher Sprache sowie der englischen Übersetzung auf dem Karl Richter-Archiv abrufbar.
Das komplette Interview in Bild und Ton, aus dem dieser Videoclip stammt, gibt es auf DVD.
2. Oktober 2013
Claes H. Ahnsjoe erinnert sich an Karl Richter
Das gesamte Interview findet sich in der Buch-Dokumentation "Karl Richter in München - Zeitzeugen erinnern sich" und ist in deutscher Sprache sowie der englischen Übersetzung auf dem Karl Richter-Archiv abrufbar.
Das komplette Interview in Bild und Ton, aus dem dieser Videoclip stammt, gibt es auf DVD.
1. Oktober 2013
Neu im Karl Richter Archiv: Die Interviews der Zeitzeugen
Das Karl Richter Archiv ist um eine neue Seite reicher. Alle Interviews mit den Zeitzeugen der Ära Karl Richters aus der Buch-Dokumentation "Karl Richter in München - Zeitzeugen erinnern sich" sind in deutscher Sprache und teilweise auch schon in der englischen Übersetzung abrufbar. Bei den meisten Zeitzeugen gibt es zusätzlich Videoclips von den Interviews. Die kompletten Interviews sind auf DVD verfügbar.
In den kommenden Wochen werden alle 21 Videoclips - mit den entsprechenden Links - an dieser Stelle zu sehen sein.