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20. September 2006
Zum 80sten im Fono Forum: Musiker der Ekstase
In der Oktober Ausgabe des Fono Forum schreibt Adelbert Reif:
(Seite 76 - Auszug)
Musiker der Ekstase
Mit dem von ihm gegründeten Münchener Bach-Chor und -Orchester formte er ein ganz eigenes Bild des Thomaskantors. Am 15. Oktober wäre Karl Richter 80 Jahre alt geworden.
Man nannte ihn "Karl der Große" oder auch "Horowitz der Orgel", was nicht unbedingt als Kompliment für Karl Richter, den deutschen "Bach-Papst" der 1950er und 1960er Jahre des vorigen Jahrhunderts, gemeint war. Denn seine Aufführungspraxis der Werke des Thomaskantors - und um sie ging es in der Hauptsache - war durchaus umstritten. So wurden gelegentlich Vorbehalte laut, Richters Bach klinge "zu emotional und romantisch, zu satt und opulent".
Dabei ließ Richter keine Grenze zwischen den Epochen gelten: Für ihn war Musik ein geformter, lebendiger Ausdruck im Gewand dieser oder jener Zeit. Was auch immer an kritischen Einlassungen gegen sein "Bach-Bild" vorgetragen worden mag sein, sie können die Bedeutung seiner künstlerischen Leistung nicht schmälern, mit dem von ihm 1953 gegründeten Ensembles Münchener Bach-Chor und Münchener Bach-Orchester eine Tradition der Bachpflege geschaffen zu haben, deren Wirkung weit in die Welt hinausstrahlte.
[...] Ein "lebendiger Bach" sollte es sein im Gegensatz zu dem an den meisten Aufführungsorten dargebotenen "sterilen" Bach. Mit diesen beiden Ensembles gelang es ihm, zuerst in München, dann in Deutschland und schließlich - nach dem Auftritt bei den Ansbacher Bachwochen 1956, als deren künstlerischer Leiter er von 1955 bis 1964 wirkte - auch international ein breites Publikum für die Musik Bachs zu begeistern.
[...] Richters Erfolg beruhte nicht zuletzt auf einem weit verzweigten Netz von Sängern und Musikern [...], die zum Teil jahrzehntelang mit Richter zusammenarbeiteten. In seiner Dokumentation "Karl Richter in München 1951 - 1981" lässt Johannes Martin, der noch unter Richter im Münchener Bach-Chor gesungen hat, eine Reihe von ihm befragter Zeitzeugen zu Wort kommen. Eindrucksvoll beschreibt dort unter anderen Dietrich Fischer-Dieskau Richters musikalisches Faszinosum: "Bei der Erwähnung nur des geringsten Details leuchteten seine Augen auf, und sein Interesse war geweckt. Und keiner wird den Ausdruck erfüllter Hingabe vergessen, den die von ihm interpretierte Musik auf sein Gesicht zauberte, auch noch lange nach der Aufführung."...
Adelbert Reif