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11. März 2008

Die Ära Karl Richter in München: Die Jahre 1964 ff. [DE]

Einzig genial! überschrieb der Spiegel im November 1965 einen Artikel über Karl Richters künstlerische Entwicklung. Richter hatte aus Amerika den Ruf erhalten, das offizielle Kennedy-Gedenkkonzert in der New Yorker Philharmonic Hall zu spielen. Richter, sein Münchener Bach-Chor und das Bach-Orchester waren, wie der Kritiker Ulrich Dibelius befand, inzwischen zu einer Institution geworden. Und Karl Schumann sah in Richter den bedeutendsten Bach-Interpreten des Jahrzehnts.

Inzwischen hatten sich zu den bewährten Protagonisten der Konzertaufführungen und Schallplatteneinspielungen neue Namen gesellt, in der zeitlichen Reihenfolge waren dies: Hermann Prey, Johannes Fink, Maurice André, Christa Ludwig und Gundula Janowitz, Franz Crass, Ernst-Gerold Schramm, Peter Schreier, Julia Hamari, Peter van der Bilt, Hermann Baumann, Edda Moser, Horst Laubenthal, Edith Mathis und Helen Donath.



Johannes Fink inmitten von Bach-Choristen

Johannes Fink

"Ich ging im Mai 1964 in die Hochschule zum Unterricht und laufe mit meinem Cellokasten an der Pforte vorbei. Aus der Pforte stürmt ein dicker, großer, schwitzender Mann auf mich zu und fragt: „Haben Sie einen Frack? Haben Sie einen gültigen Reisepass? Sie sind engagiert.“ Dann habe ich ein bisschen gestutzt und hab gefragt, worum es denn eigentlich ginge, und dieser Mensch hat mir dann gesagt, dass in zwei Tagen eine Konzertreise des Münchener Bach-Chores und -Orchesters nach Italien stattfinden soll und ein Cellist der Oper absagen musste, weil er von seinem Chef nicht frei bekommen hat. Und jetzt braucht er dringend, unbedingt einen Cellisten.

Ich bin dann zu meinem Celloprofessor gegangen, habe ihn gefragt, und er hat gesagt: „Unbedingt zusagen, unbedingt, ganz, ganz wichtig.“ Und dann bin ich wieder zu dem Herrn Klosa, das war der Hausmeister der Hochschule und, wie sich dann später herausgestellt hat, die rechte Hand von Karl Richter, und hab' „ja“ gesagt, war dann in der Markuskirche am nächsten Tag zu zwei Proben, und am übernächsten Tag saß ich mit Frack und Reisepass, denn das waren ja meine Qualifikationen, im Zug mit Bach-Chor und Bach-Orchester."

Auf dieser Konzertreise war erstmals auch Maurice André mit dabei. Er war als Juror im Fach Trompete zum ARD-Wettbewerb 1963 nach München gekommen, hatte sich dann aber entschlossen. selber als Spieler am Wettbewerb teilzunehmen, und gewann unangefochten und überragend den 1. Preis. Karl Richter verpflichtete Maurice André sogleich für seine Aufführungen, das Debüt erfolgte auf dieser Tournee nach Italien und in die Schweiz, wo in Palermo, L’Aquila, Florenz, Turin, Mailand, Vicenza und beim Bachfest in Schaffhausen neben Haydns Schöpfung, Bachs Johannes-Passion und die h-moll-Messe auf dem Programm standen.



Maurice André auf der Italientournee 1964

Lotte Schädle

"Schon die Überfahrt von Reggio nach Messina war eine stimmungsvolle Angelegenheit. Bei sternklarem Himmel spielte Maurice André an Deck auf seiner Bachtrompete. Es war herrlich. "

Karl-Christian Kohn

"Dieses allerletzte Konzert der Italien-Reise in Vicenza, das war unheimlich. Ich hatte manchmal das Gefühl, als wenn er Todesnähe empfunden hätte. Nach dem Konzert war er ja ziemlich schweigsam, hat sich da hingesetzt, hat seinen Rotwein getrunken. Mir war unbegreiflich, dass er dann am andern Tag quicklebendig war. Aber die Art und Weise, wie er nach einem Konzert da saß, gerade da in Vicenza, der Eindruck war unglaublich. Ein Genie, hier war ein Musikgenie am Werk. Das war der Unterschied zu den anderen, auch guten Dirigenten. Aber hier war ein Genie am Werk. Ganz einwandfrei."



Karl Richter in Italien 1964

Wieder zurück in München, war die Schallplattenaufnahme von Georg Friedrich Händels Messias für die Deutsche Grammophon Gesellschaft angesagt, die erste Einspielung mit Maurice André an der Trompete. Im Februar 1965 folgte dann Bachs Weihnachtsoratorium - mit Gundula Janowitz, Christa Ludwig, Fritz Wunderlich und Franz Crass - und natürlich mit Maurice André, und im April brach Richter mit Chor und Orchester zur ersten Konzertreise in die USA auf.

1966 flog Karl Richter mit seinem Ensemble nach Finnland zu Konzerten in Helsinki und Turku und nur wenig später zum English Bach-Festival nach Oxford. Überall stand jeweils auch Bachs h-moll-Messe auf dem Programm, und stets war Maurice André mit von der Partie.

Hertha Töpper

"Ich weiß, dass wir in Helsinki damals eine unglaublich geglückte h-moll-Messe hatten. Da war auch wieder diese Übereinstimmung - Keilberth würde sagen, da war Gott im Raum - es war ein ungeheures Fluidum zu spüren. Da gab es ein Empfinden von „es kann überhaupt nichts passieren“. Wir waren wie unter einer Glocke. Jeder von uns gibt das Beste, aber wir wurden irgendwie geführt, wir konnten gar nicht anders, als dass jeder das Beste gab. Es war eine so geschlossene, fast schwebende Aufführung."



Karl Richter und Maurice André in Helsinki 1966

Im November 1966 gelangte im Deutschen Museum München Händels Oratorium Judas Maccabäus zur Aufführung. „Es war ein Abend des dirigentischen Glanz und Gloria“ schrieb Karl Schumann in der SZ. „und er wird durch den herben, verzückten Klang des Bach-Chores, durch Maurice Andrés Wundertrompete und durch den energischen Bogenstrich des Bach-Orchesters eine kostbare Konzerterinnerung bleiben. Der Beifall schien die Mauern von Jericho einstürzen zu können.“ ..."

Johannes Fink

"Eines Tages ruft mich der damalige Besetzungschef von Karl Richter an, der Herr Kirchner, und fragt: „Trauen Sie sich zu, in einer Bach-Passion Gambe zu spielen?“ Na ja, ich war damals 22, 23 Jahre alt, da traut man sich sehr viel zu, und ich habe natürlich „ja“ gesagt. Dann bin ich zu den ersten Proben gekommen. Karl Richter, hat mich sehr tastend angesehen, er hat kein Wort gesagt, dann war die Generalprobe der Johannes-Passion. Hertha Töpper hat die Es-ist-vollbracht-Arie gesungen. Er hat auch nach der Generalprobe kein Wort gesagt, nur, als wir dann vom Podium runter gegangen sind, kommt er zu mir her und sagt: „Aber morgen Abend spielen Sie nicht auswendig.“ Dann hab ich gesagt: „Doch, Herr Professor, ich werde auch morgen auswendig spielen, wenn ich was auswendig spiele, dann kenne ich das Stück so gut.“ Er drauf: „Was machen Sie, wenn sich jemand verspielt?“ „Das wird nicht der Fall sein.“ „Nein, ich möchte nicht, dass Sie auswendig spielen, es macht mich nervös.“

Und da musste ich ein bisschen schmunzeln, denn er hat ja alles auswendig dirigiert, gespielt, geprobt, er kannte die Taktzahlen auswendig. Ich hab dann trotzdem auswendig gespielt und er hat kein Wort darüber verloren. Man wartet schon das erste Mal, wenn man spielt, dass er sagt: „Es war gut“, oder man wartet erst recht darauf, dass er sagt: „Es war nicht gut“. Nichts gehört!"



Johannes Fink